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FREIE MENSCHEN IN EINEM UNFREIEN LAND TEIL 1

Author: Yana Belskaya

Das vergangene Jahr war das schlimmste Jahr für Millionen von Menschen. Es wurde viel über den Krieg, die Opfer und die Flüchtlinge aus der Ukraine und Russland gesprochen und geschrieben. Doch was ist mit den Russen, die aus verschiedenen Gründen in ihrem Land geblieben sind? Leider hört man viel zu wenig von ihnen, obwohl die russische Propaganda lautstark verkündet, dass ein "Volk von Z-Patrioten" die Regierung in diesem schrecklichen Krieg unterstützt. Die europäische Gesellschaft glaubt kaum an die Zahlen, die von den gehorsamen russischen Soziologen veröffentlicht werden, da bekannt ist, dass die Wahrheit das erste Opfer eines Krieges ist. Ungehorsame, beziehungsweise unabhängige Analysten versuchen zwar, realistische Zahlen zu liefern, aber ihre Arbeit gestaltet sich äußerst schwierig. Das liegt daran, dass unter den in der Russischen Föderation Verbleibenden nur wenige den Mut haben, in Gesprächen mit Fremden den Krieg zu verurteilen, denn Denunziation und Repression sind in dem Land zur Norm geworden. Doch das bedeutet nicht, dass diese Menschen aufgegeben haben. Sie sind vorerst nur in den Untergrund gegangen und warten auf eine bessere Zeit. Und es gibt viele von ihnen, dutzende von Millionen.

Es ist für sie schwierig, sich auszudrücken, aber unter der Bedingung der Anonymität konnten wir mit 22 Menschen sprechen, die in Russland und gegen den Krieg sind. Wir stellten ihnen einige Fragen, darunter: Sprechen sie offen über ihre zivile Position, warum bleiben sie in Russland, was fühlen sie über den Krieg und was erwarten sie von der Zukunft? Die daraus resultierenden Antworten ergaben einen riesigen Longread, der voller Trauer und Empathie ist und wir konnten ihn deshalb nicht kürzen.

Übersetzung: ”bitte kein Krieg”

Vasilij, IT-Direktor, hat vier minderjährige Kinder, ein Haus, einen Hund und zwei Katzen.

Nach dem 24.02.2022 habe ich das Gefühl, dass uns die Zukunft genommen wurde, sie existiert einfach nicht mehr. Seit September fühle ich mich unsicher, alles ist instabil. Jederzeit kann ich eingezogen werden und dann soll ich alles hinter mir lassen. Meine persönliche Wahl in diesem Fall ist einfach - entweder aus Russland fliehen oder ins Gefängnis gehen.

Mein Bekanntenkreis hat sich seit dem 24.02. etwas verkleinert - ein paar Freunde, die für den Krieg waren, haben sich abgewendet. Unter Freunden sprechen wir praktisch nicht über den Krieg selbst, es ist irgendwie ein ungeschriebenes Tabu, aber wir diskutieren aktiv über die Folgen und was wir tun werden, falls etwas passiert, wie man ein neues Leben außerhalb Russlands aufbauen kann. Wer konnte, ist sofort mit einem zweiten Pass oder einer Einladung, im Ausland zu arbeiten, gegangen.

Es ist schwer, zu leben und nicht überall zu schreien, dass das Land einen Scheißdreck veranstaltet, dass die Machthabenden einen kompletten Scheißdreck veranstalten, besonders wird einem das nach dem Lesen von Nachrichten in Telegram-Kanälen oder auf “Meduza” klar. Aber ich trage Verantwortung für meine Angehörigen. Don Quijote zu sein, ist verantwortungslos, denn für 5-8 Jahre ins Gefängnis zu gehen, ist ein Kinderspiel. Meine Frau und ich diskutieren alles, was passiert. Im Mai 2022 wollte sie nicht einmal über einen Umzug in ein anderes Land nachdenken, aber seit September begann sie über diese Möglichkeit nachzudenken. Unsere mittlere Tochter schließt die Schule ab und denkt aktiv darüber nach, außerhalb Russlands weiter zu studieren, obwohl sie sich vor zwei Jahren so etwas nicht vorstellen konnte. Einige Lehrer in ihrer Schule beginnen jedoch, RT-Ideen (RT (bis 2009: Russia Today) ist ein am 10. Dezember 2005 vom russischen Staat gegründetes und finanziertes Auslandsfernsehprogramm, das im Internet und per Satellitentranspondern verbreitet wird (laut Wikipedia)) zu verbreiten, zum Glück kann sie die Informationen selbst analysieren und lässt sich nicht beeinflussen. Aber der Trend ist offensichtlich.

Mit meinen Söhnen, die 15 und 10 Jahre alt sind, spreche ich selbst. Ich muss ihnen, vor allem dem Älteren, erklären, dass er auf seine Worte achten und im Unterricht "Reden über wichtige Dinge"(Propaganda-Unterricht, das in der Schule eingeführt wurde) keine unnötigen Fragen stellen soll. 

Ich ertappe mich regelmäßig bei dem Gedanken, dass ich nun weiß, wie das Leben in der UdSSR Mitte der 30er Jahre aussah. Seit dem Frühjahr bereite ich mich auf meine Übersiedlung vor. Dies wird dadurch erschwert, dass ich nicht über die notwendigen Fähigkeiten und Kenntnisse verfüge, um genug Geld zu verdienen, um eine Familie mit vier Kindern zu ernähren. Also lerne ich, verbessere mein Englisch und die erforderlichen Kenntnisse.

Im Moment sehe ich keine Zukunft für Russland. Ich denke, es wird wie in Nordkorea sein, nur in einem größeren Maßstab. Daran zu denken, macht hoffnungslos und deprimiert sehr.


Vadim, arbeitender Rentner aus Karelien

Bis zum 24.02.2022 lebte ich mit der Hoffnung, dass es nicht zum Wahnsinn kommen würde. Er kam. Jetzt gibt es keine Hoffnung und keine Erwartungen mehr. Das Warten auf eine totale Apokalypse ist beängstigend, das Warten auf etwas Gutes ist dumm. Kein einziges Zeichen der Besserung, kein einziger Grund zur Hoffnung. Nur wachsender Wahnsinn und Scham. 

Ich warte auf das Schicksal der Deutschen im Jahr 1945. Ich will es nicht, aber ich verstehe, dass wir es verdient haben. Wir alle. Sowohl die, die geschwiegen haben, als auch die, die nicht geschwiegen haben. 

Ich sehe keinen Sinn darin, allein auf die Straße zu gehen und zu protestieren. Man wird mich einfach verhaften und niemand wird diesen Protest sehen. Ich glaube nicht an die Möglichkeit eines Massenprotests. Es gibt niemanden, der einen Massenprotest organisieren könnte. Und ich möchte nicht schweigen, und ich kann es auch nicht. Aber es gibt nur noch die Tête-à-tête Gespräche, um sich zu äußern.

Das Internet teilt sich in "Patrioten" und "Verräter" (oder "Idioten" und "Normale" - alles ist gleich) auf. Mit denen zu sprechen, die mit mir sowieso einer Meinung sind - was bringt das? Sie kommen zu dem Schluss, dass die Dinge schlecht sind und etwas getan werden muss. Und was? Alle Antworten auf diese Frage fallen unter die Artikel des Strafgesetzbuches. Wir reden miteinander, wir fühlen uns krank im Herzen, vergeblich, potenziell gefährdet. Der Wirkungsgrad ist gleich null. Es ist sinnvoller, mit echten Menschen zu reden. Wenn einer der "Befürworter" wenigstens über die Sinnlosigkeit des Unterfangens nachdenkt, ist es schon gut. Er soll gar nicht erst über die verheerenden Folgen des Krieges für unser Land nachdenken, nicht einmal über die Verbrechen, wenigstens über die Nutzlosigkeit soll er nachdenken. Lasst ihn wenigstens ehrlich den Krieg einen Krieg nennen. Es ist nicht nötig, meine Meinung zu teilen. Er muss seine eigene Meinung bilden, auf einer einfachen, alltäglichen Basis: Wurde das Leben durch den Krieg besser oder schlechter? Um die Ansammlung einer kritischen Masse von Andersdenkenden zu fördern. Einfach anders denken. Mehr kann ich im Moment nicht sagen. Ich selbst sehe natürlich mehr und mehr Ähnlichkeiten zwischen dem heutigen Russland und dem Deutschland der späten 1930er Jahre.

Ich kann nirgends hin. Und habe auch kein Geld dafür. Es gibt nicht genug Geld, um sich woanders niederzulassen. Und die Mama... sie will nicht weg. Und die Jahre. Wer braucht da schon einen alten, aussichtslosen Mann ohne gefragte Arbeit. Und niemand ist verpflichtet, mir dort zu helfen. Ich werde mein Leben hier verbringen. Es gibt nichts, worauf ich warten kann, nichts, was ich mir erhoffen kann, das Gute ist, dass ich bald auch keine Angst mehr haben muss.


Lyudmila, Dozentin der Moskauer Staatsuniversität

Ich hängte einen handgeschriebenen Zettel "Ich bin gegen den Krieg" und ein Porträt von Nemzow vor meinen Schreibtisch. Ein Student fragte, warum Nemzow. Ich antwortete, weil er dagegen gewesen wäre und ich ihn unterstützt habe, und außerdem mag ich es nicht, wenn Menschen in den Rücken geschossen werden. Aber normalerweise sprechen die Schüler nicht mit mir über dieses Thema.

Wie denken meine Kollegen über den Krieg? Sie sind unterschiedlich. Einige sind wie ich. Andere rechtfertigen ihr Schweigen mit der Aussage "sonst hätten sie uns angegriffen".

Auf der Straße - in den öffentlichen Verkehrsmitteln, in den Taxis, in den Geschäften - höre ich häufig Reden, die meine Gefühle widerspiegeln. Gleichzeitig wird in unserem Haus "Hilfe für die Soldaten, die unser Land verteidigen" gesammelt. Die Frage ist nur: vor wem?

Auf Facebook schreibe ich in meinem eigenen Namen, was ich will. Nach einem dieser Beiträge schrieb mir ein polnischer Kollege einen sehr herzlichen Brief, in dem er darauf hinwies, dass nicht ganz Russland so denkt wie die Machthaber. Warum schweigen viele Menschen? Aus Angst. Es gibt Gefängnis für nur ein Wort - "Krieg"! Und die Strafen sind nicht gering - 8-10 Jahre. Yashin schrieb über Bucha - 8 Jahre, Gorinov für das Wort "Krieg" - ebenfalls 8 Jahre. Und es gibt viele solcher Beispiele! 

Was das Verlassen betrifft - ich würde gerne nach Georgien gehen, zum Beispiel, wo sie auf mich warten. Aber wir sind keine jungen Leute, es fällt uns einfach schwer.


Daria, 41, Lehrerin, Anapa

Als der Krieg begann, gelang es mir, zwei Petitionen gegen ihn zu unterzeichnen - auf change.org und einer anderen. Das war buchstäblich in den frühen Tagen, als es noch "möglich" war. Ich las im Stillen die Korrespondenz in den lokalen Chats und konnte es nicht ertragen, als eine Dame erzählte, wie ihr Großvater Kiew gegen die Nazis verteidigt hatte und dass er es "nicht verzeihen" würde, wenn er herausfände, dass er "nicht fertig geworden war". Ich zitierte eine Zeile aus dem Lied 'Kiew wurde bombardiert, man sagte uns, der Krieg habe begonnen'. Und ich verließ den Chatraum. Ein örtlicher Priester (seine Töchter studieren bei mir) schrieb und rief mich an und begann, mich über die spezielle Militäroperation "aufzuklären". Bei der Beichte vor Ostern sagte ich, dass mein Glaube immer schwächer werde. Am Dreifaltigkeitstag kamen die kirchlichen "Behörden", um den ersten Stein zu weihen (der Bau einer großen Kirche begann anstelle der alten kleinen), in einer feierlichen Rede erwähnten sie "Wladimir Wladimirowitsch", es gab Sätze im Sinne von "die Feinde werden nicht warten". Es war so… gotteslästerlich! Was ist mit dem, was ist für Cäsar Cäsars und für Gott aber Gottes? Was haben "Wladimir Wladimirowitsch" und die Bombardierung der Ukraine mit dem Fest der Dreifaltigkeit zu tun? Ich habe aufgehört, in die Kirche zu gehen. Ich kann nicht anders.

In der Gesellschaft wird alles Ukrainische schnell abgelehnt, was mehr als seltsam ist, wenn man bedenkt, dass ich in einem Dorf im Kuban lebe, wo jeder ukrainische Verwandte hat und wo ukrainische Ausdrücke gebräuchlich sind. Im März machte ein 8-jähriges Mädchen einen "lustigen" Witz: "Was ist das beste Mittel, um in die Ukraine zu fahren? - Ein Panzer!" In den Pausen bastelten die Kinder Flugzeuge und malten Flaggen darauf, die "schlechteste" Flagge galt als die ukrainische, alle anderen wurden gründlich sortiert, ob sie "für" Russland oder "gegen" Russland waren. Es wurden Schlachten inszeniert. Wenn man bei einem Brettspiel auf eine Kombination aus Blau und Gelb stieß, brachte das Unglück - "igitt, die ukrainische Flagge". Und als die Namen der Länder auftauchten, entpuppten sich plötzlich alle Kinder als politisch “versiert”. Sie verwechselten Japan und China, hielten Paris für die Hauptstadt von London, wussten aber ganz genau, dass "die USA - Zelensky, äh, Biden, aber für Zelensky" sind.

Daniil, Handwerker und Dekorateur, Brjansk

Bevor der Krieg begann, habe ich meine Position zu vielen Themen nicht sehr offen dargelegt. Und ich hatte eine andere Position, zum Beispiel zur Krim und zum Donbass, als 2014 alles begann. Aber seit mehr als zwei Jahren und insbesondere nach dem Beginn eines offenen Krieges mit dem Nachbarland ist meine Haltung sowohl zum Krieg als auch zu meinem Staat negativ. Das ist einfach ein riesiger Fehler und Sabotage seitens der russischen Führung. Und sie verdienen eine lange Haftstrafe in einem russischen Gefängnis, wenn auch nur nach den Gesetzen, die sie selbst erlassen haben.

Ich versuche, meinen Verwandten und Freunden meine Position zu vermitteln, ich teile meine Telegram-Kanäle, schicke ihnen Nachrichten und wahre Geschichten.

Ich zeige ihnen zum Beispiel den YouTube-Kanal von Zolkin persönlich. Ich schicke ihnen Links, ich schärfe ihren Blick.


Und die Leute, die sagen: "Wenn es dir nicht gefällt, dann geh", die möchte ich wirklich einmal hauen. Und zwar sowohl diejenigen, die die offizielle Propaganda und den Krieg unterstützen, als auch diejenigen, die gegangen sind und ihre Meinung äußern.

Ich gehe nirgendwo hin - meine alte Mutter ist hier, meine Familie ist hier. Wir arbeiten, wir haben genug zum Leben, aber meine Frau und ich haben keine Ersparnisse, um wegzugehen, und kein passives Einkommen, wie die meisten meiner andersdenkenden Freunde. Hier sind meine Kunden und meine Arbeitsstellen, hier ist mein Zuhause. Meine Tochter studiert an einer guten Universität in Moskau. Also bleiben wir hier.

Wir hoffen, dass Putin bald an Krebs oder was auch immer er hat, sterben wird

V, Redakteurin

Mein Mann teilt meine Ansichten, meine Mutter und meine Schwiegermutter sind ebenfalls gegen den Krieg. Mein Schwiegervater vertritt die Position "es ist nicht alles so eindeutig".

Als der Krieg anfing, war mein erster Gedanke, wegzulaufen. Irgendwohin. Sogar als Tellerwäscher arbeiten und in einer  Baracke wohnen. Und wenn ich allein gewesen wäre, hätte ich das auch getan. Aber ich habe Verpflichtungen. Ältere Eltern, sowohl meine als auch die meines Mannes. Meine Tochter, die damals in der ersten Klasse war, wurde im Sommer vor der ersten Klasse von einem Auto angefahren und hatte sehr schwere Verletzungen, und eine der Anordnungen der Ärzte war, sie vor Erschütterungen zu schützen.

Ich war immer stolz auf mein Land. Ja, es ist arm, ja, es gibt Diebe in der Regierung. Aber was für eine Kultur! Was für eine Seele! Was für eine schöne Sprache und Literatur! Aber je weiter ich gehe, desto weniger möchte ich hier bleiben. Ich kann es vielleicht nicht sofort tun, aber ich werde die Voraussetzungen dafür schaffen, dass meine Tochter ausreisen kann.

Ich sehe den Krieg jetzt als ausweglos. Wie ein Block, der uns alle erdrückt hat, und wir kauern nun in dieser Höhle und versuchen, bei einem Hauch von Licht zu überleben, und hoffen, dass sie nicht völlig einstürzt. Ich freue mich, wenn ich von den Siegen der ukrainischen Armee lese. Wenn ich sehe, wie schlecht es dem Putin geht. Noch nie in meinem Leben habe ich einem Menschen den Tod gewünscht. Aber jetzt warte ich sehr.

Wenn ich als Kind auf den Frühling wartete, schob ich den Schnee in die ersten Pfützen. Es schien mir, als ob ich dem Frühling helfen würde. Und jetzt versuche ich, kleine Schritte in diese Richtung zu machen. Ich weiß, dass es nichts bringt, aber es hält mich davon ab, verrückt zu werden.

Maria, medizinische Fachkraft, Moskau

Fast ein Jahr ist es her, dass die schrecklichen Ereignisse begannen. Da ich in engem Kontakt mit den Menschen arbeite, kann ich sagen, dass das Ausmaß des Schreckens natürlich abgenommen hat. Viele Menschen haben aufgehört, darüber zu reden, und haben sich irgendwie angepasst. Umso mehr, weil man nicht wirklich darüber reden darf. Meine Einstellung zu diesem Scheißding hat sich nicht geändert und wird sich auch nie ändern: Unser Land ist auf jeden Fall ein Aggressorland, und wir haben ein anderes Land zerbombt.

Es gibt einen sehr kleinen Prozentsatz von Andersdenkenden in unserem Land. Die Menschen leben in Armut und halten das, was geschehen ist, dennoch für richtig. Es ist eine unverbesserliche Tatsache, dass in den Hirnen der Menschen eine Menge Scheiße steckt. Es ist sehr traurig, dass Menschen auf beiden Seiten sterben müssen. Unsere Kinder wurden einer Zukunft beraubt, eines normalen Lebens, der Möglichkeit, die Welt zu sehen und zu lernen. Selbst wenn man irgendwohin reisen will, kostet das exorbitant viel Geld. Und wegen des Krieges sind die Lebensmittelpreise um das 3- bis 5-fache gestiegen - was bleibt uns also noch übrig?

Man hat uns für viele Jahre mit einem monströsen Ruf ausgestattet, und ein Ende dieses Irrsinns ist nicht in Sicht. Wir graben uns noch tiefer ein. Wir leben in einem Tag. Es ist unmöglich, irgendwelche Pläne zu machen. Alles in allem sieht die Zukunft gar nicht gut aus. Sicher, wir tun etwas, überleben irgendwie, aber der Angstlevel ist sehr hoch. Und solange jeder bleibt, wo er ist, wird sich nichts ändern.

K, 45, Top-Manager beim TV

"Jura, wir haben alles verschissen" ist der Satz aus einem berühmten Meme, der meinen Gemütszustand am besten beschreibt.

Nach 30 Jahren des Aufbaus der "neuen russischen Medien", wenn man sein Durchschnittspublikum, sein übertriebenes Selbstbild von den Medien und sein Verständnis von deren Aufgabe und Rolle so falsch versteht, ist es ein Fiasko, Bro. Alles in allem war es mehr oder weniger klar, als das Land von Surkovs zynischem, aber elegantem Management der Innenpolitik zu Wolodins Hetzpolitik überging. Doch wie es sich zeigte, stand noch viel mehr zu erwarten.

Nach 30 Jahren des Aufbaus der "neuen russischen Medien", wenn man sein Durchschnittspublikum, sein übertriebenes Selbstbild von den Medien und sein Verständnis von deren Aufgabe und Rolle so falsch versteht, ist es ein Fiasko, Bro. Alles in allem war es mehr oder weniger klar, als das Land von Surkovs zynischem, aber elegantem Management der Innenpolitik zu Wolodins Hetzpolitik überging. Doch wie es sich zeigte, stand noch viel mehr zu erwarten.

Es sind nicht einmal die Propagandisten, deren Namen in aller Munde sind, sondern die Schützlinge von Manana [Aslamazyan] und Internews in den Regionen, die mich so "erfreuen" und die sich ebenso für das scheinbar Unvorstellbare einsetzen. Viele machen auch weiterhin Karriere und ziehen die anderen über den Tisch, indem sie den Moment ausnutzen.

Mein Paradigma für mein derzeitiges Leben ist: weggehen nicht bleiben. Das führt zu Apathie, Depression, einer unterschwelligen Gleichgültigkeit und einer Menge Missstände.

Dmitry, Leiter eines großen IT-Unternehmens, St. Petersburg

Ich äußere meine Ansichten nicht öffentlich, da ich kein Politiker bin. In privaten Gesprächen nenne ich Krieg einen Krieg und diskutiere nicht mit denen, die anders denken. Ich versuche nicht, die Sturköpfe umzustimmen, und verbreite meine Meinung im öffentlichen nicht. Mein Standpunkt zu dem, was geschieht, ist unerschütterlich: dieser Angriffskrieg, ein aggressiver, sinnloser Krieg - ist ein Verbrechen.

Ich habe kein anderes Heimatland. Russland hat dunkle Zeiten erlebt, und diese dunklen Zeiten werden enden. Es schmerzt mich, was hier geschieht, aber es kommt für mich nicht in Frage auszuwandern. Dies ist mein Land und ich werde es nicht verlassen. Ich werde auf die Zeit warten, in der diejenigen, die es gekapert haben, fliehen werden. Dieses "1984" kann in der heutigen Welt nicht lange weitergehen.

Ich habe das Gefühl, dass wir mehr und mehr wie das Nazi-Deutschland der 30er und 40er Jahre werden. Ich empfinde Schmerz und Groll für uns und bin stolz auf die Ukrainer, die tapfer für ihr Heimatland kämpfen. Es schmerzt mich zu wissen, dass Putin und seine Kabale uns in diese Lage gebracht haben. Und es schmerzt mich noch mehr, wenn ich feststelle, dass Dutzende Millionen meiner Mitbürger dies direkt oder stillschweigend billigen. Ich weiß, dass dieser Krieg in Frieden enden wird. Aber ich weiß nicht, wie sich das alles auf unsere Zukunft auswirken wird.

D, Englischlehrerin

Am Anfang dachte ich kühn, dass ich im nächsten Jahr mit den Kindern ein Weihnachtstheaterstück mit kleinen Szenen in verschiedenen Sprachen aufführen und Gogols "Die Nacht vor Weihnachten" zum zentralen Thema machen würde. Aber ich merkte bald, dass dies unmöglich war.

Nach den ersten Tagen habe ich nirgendwo meine Stellung dazu geäußert. Obwohl ich keinen Hehl daraus gemacht habe, dass ich Putin nicht mag. Ich unterrichte Englisch, und als die Kinder versuchten, etwas über die Amerikaner und Engländer zu sagen, die uns "nicht mögen", habe ich sie scharf unterbrochen und ihnen gesagt, dass Länder in erster Linie Menschen sind, sie können gut oder schlecht sein. Auf die Frage, ob ich für die Ukraine oder für Russland sei, sagte ich, dass ich für den Frieden sei. Auf die Frage, wer zuerst angegriffen hat, sagte ich Russland. Als Antwort auf die Aussage, dass die Amerikaner uns nicht mögen und uns töten wollen, nannte ich das Beispiel eines amerikanischen Lehrers, der uns das ganze letzte Jahr kostenlos per Videocall angerufen hat, einer amerikanischen Familie, mit der wir Postkarten und Briefe ausgetauscht haben, eines amerikanischen Lehrers, der uns allen Süßigkeiten geschickt hat. Ich habe diese Beispiele angeführt und gefragt, wer von ihnen uns umbringen wollte? In Gesprächen mit Teenagern sprach sie bereits offener und direkter. Eine Gymnasiastin bereitete ein Englischprojekt vor, und ich schlug ihr vor, etwas Material auf Reddit zu sammeln, und sie fragte mich, ob es stimme, dass dort alle eine negative Einstellung gegenüber Russen hätten. Ich sagte ihr ehrlich, dass ich Putin und dem Krieg gegenüber negativ eingestellt sei und dass sie, wenn sie sagen würde, dass sie einen Angriff auf die Ukraine unterstütze, entsprechend behandelt werden würde.

M, Redakteurin

Fast ein Jahr nach dem Krieg bin ich noch nicht weg. Was mich antreibt: Eltern, Freundschaften, Liebe - die, die hier geblieben sind; ein Haus auf dem Lande; die Natur, trotz des miesen Klimas. Die Sprache. Schon vor dem Krieg habe ich auf einer Auslandsreise gemerkt, wie wertvoll meine Sprache für mich ist - die gelegentlichen Satzfetzen, die Wörter, die Betonungen, die Dinge, die man sofort liest. Sie ist wie Luft, und ich brauche sie.

Ich musste mich mit verrückten Bekannten über den Krieg streiten. Manche Menschen sind taubblind geworden. Das Gefühl der undurchdringlichen Selbsttäuschung und die Bereitschaft, sein Leben für nichts zu versauen, ist unfassbar. Für mich gibt es hier keine Antworten. Umso wertvoller ist es, wenn man in einem Taxifahrer oder einem Marktverkäufer einen Gleichgesinnten trifft, was auch schon vorgekommen ist.

Alles, was ich seit einem Jahr erlebe, ist eine Mischung aus Verzweiflung und Hoffnung, erstere mehr und mehr, letztere versiegend.